Vorwort
Wie verändern aus einer marxistisch-philosophischen Perspektive Aneignungsakte das, was in ihnen angeeignet wird - und welche emanzipatorischen Möglichkeiten bietet heute die Neuorientierung an einem Marx'schen Begriff der Aneignung?
Rahel Jaeggi setzt bei Vorstellungen von Inbesitznahme und Entfremdung an, um das Verhältnis von Fremdheit und Eigenheit generell zu überdenken. Dabei wird das zentrale Postulat von Marx in einer diesen auf den Kopf stellenden Weise produktiv gemacht: denn Fremdheit gilt nun als Möglichkeitsbedingung „wirklicher“ Aneignung.
ANEIGNUNG
„Aneignung“ ist ein alltäglicher Begriff: Wenn jemand eine fremde Sprache lernt, sich in eine technische Fertigkeit einübt oder eine Rolle übernimmt, kann man davon sprechen, dass er sich diese „angeeignet“ hat. „Aneignung“ ist ein politischer und ein rechtlicher Begriff: Man bestraft die widerrechtliche Aneignung fremden Eigentums oder proklamiert emphatisch die Aneignung öffentlicher Räume. „Aneignung“ ist ein philosophischer Begriff: Von der Stoa über die Romantik zum Hegelianismus und weiter reichen die Versuche, menschliche Selbst- und Weltbezüge als Aneignungsverhältnis zu verstehen. Und „Aneignung“ ist (oder war) ein revolutionäres Konzept (oder sollte es jedenfalls sein): Was Marx als „wirkliche Aneignung“ konzipiert, ist eine revolutionäre Transformation; die „Aneignung aller menschlichen Wesenskräfte“ ist erst in dem Zustand verwirklicht, den er „Kommunismus“ nennt.
Gerade an der Marx'schen Idee von Aneignung aber wird nicht nur die Attraktivität des Begriffs sichtbar, sondern auch eine Problematik: die mit ihm gesetzte Spannung zwischen Eigenheit und Fremdheit. Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass es einer Klärung und Neuinterpretation dieses Verhältnisses bedarf, will man den Begriff der Aneignung heute philosophisch und politisch produktiv machen.
Was bedeutet es, sich etwas anzueignen? Und, wenn der Begriff der Aneignung ein spezifisches Verhältnis zwischen Selbst und Welt, zwischen Individuen und Gegenständen (seien diese geistiger oder materieller Natur) beschreibt: Wie genau sieht dieses Verhältnis aus, was ist seine Besonderheit und seine spezifische Struktur? Verschiedene Momente kommen hier zusammen und machen möglicherweise gemeinsam den Reiz wie das Potenzial des Begriffs aus. Gegenüber dem bloßen Lernen bestimmter Inhalte betont die Rede von deren Aneignung, dass hier etwas nicht nur - passiv - übernommen, sondern - aktiv - durchdrungen und eigenständig verarbeitet wird. Gegenüber einer bloßen (theoretischen) Einsicht in einen Sachverhalt bedeutet dessen Aneignung - vergleichbar dem psychoanalytischen Prozess der Durcharbeitung -, dass man mit dem Erkannten „umgehen“ kann, dass es einem als Wissen wirklich und praktisch zur Verfügung steht. Und sich eine Rolle „anzueignen“ bedeutet mehr als sie ausfüllen zu können: Man ist, so könnte man sagen, mit ihr identifiziert. Etwas, das man sich aneignet, bleibt einem also nicht äußerlich. Indem man es sich „zu Eigen“ macht, wird es in gewisser Hinsicht Teil von einem selbst. Evoziert wird hier eine Art von Introjektion und Durchmischung mit den Gegenständen der Aneignung. Und aufgerufen ist auch die Idee eines produktiv-gestaltenden Umgangs mit dem, was man sich „zu Eigen“ macht. Die Aneignung lässt das Angeeignete nicht unverändert. Deshalb bedeutet z.B. eine „Aneignung“ öffentlicher Räume mehr, als dass man sie bloß benutzt. „Zu Eigen“ macht man sie sich, sofern diese von dem, was man in ihnen und mit ihnen tut, geprägt werden, sich durch die aneignende Benutzung verändern und durch sie erst eine bestimmte Gestalt - wenn auch nicht notwendig im materiellen Sinne - gewinnen. Obwohl der Begriff der Aneignung eine seiner Wurzeln in der Beschreibung von Eigentumsverhältnissen hat, wird mit ihm gegenüber dem bloßen Besitz die besondere Qualität eines Prozesses betont, der wirkliche Inbesitznahme erst konstituiert. Aneignung wäre demnach ein bestimmter Modus der Besitzergreifung. [1] Jemand, der sich etwas aneignet, gibt diesem eine individuelle Prägung, legt seine eigenen Zwecke und Bestimmungen in etwas. Deshalb muss man sich manchmal etwas, das man schon besitzt, trotzdem erst noch zu Eigen machen, aneignen.
Es sind also mehrere Aspekte, durch die Aneignungsverhältnisse gekennzeichnet sind: Aneignung ist eine Praxis, eine Form des praktischen Weltverhältnisses. Aneignung meint dabei ein Verhältnis der Durchdringung, der Assimilation, der Verinnerlichung, in dem das Angeeignete gleichzeitig geprägt, gestaltet und formiert wird. Die entscheidende (und auch für Marx bestimmende) Pointe des Modells, Konsequenz dieser Struktur von Durchdringung und Assimilation, liegt nun aber in dem Umstand, dass Aneignung immer eine Transformation beider Seiten bedeutet. In einem Aneignungsprozess verändert sich beides, das Angeeignete, aber auch der Aneignende. Im Prozess der „Einverleibung“ (der aneignenden Assimilation) bleibt der Einverleibende sich nicht gleich. Dem kann man eine konstruktivistische Wendung geben: Der Aneignende konstituiert sich im Aneignungsprozess, umgekehrt gibt es auch das Angeeignete nicht ohne die Aneignung. (In einigen Fällen liegt das auf der Hand: Den öffentlichen Raum gibt es als öffentlichen Raum nicht ohne seine öffentliche Aneignung; aber auch soziale Rollen existieren nur, sofern sie immer wieder - neu - angeeignet werden.)
Man sieht jetzt das Potenzial und die Eigenart des Begriffs: Die Möglichkeit, sich etwas „anzueignen“, steht nämlich einerseits für die Handlungs- und Gestaltungsmacht eines Subjekts, das die Welt, die es sich aneignet, eigensinnig prägt. (Die gelingende Aneignung von sozialen Rollen oder Tätigkeiten, das aneignende Verhältnis, das man, übertragen, zu seinem Leben überhaupt einnehmen kann, stehen ja jeweils für so etwas wie Selbstbestimmung und Autorschaft seinem eigenen Leben gegenüber.) Andererseits ist ein Aneignungsprozess an vorgegebenes bzw. vorfindbares Material gebunden, damit auch an eine Eigensinnigkeit und Eigendynamik, über die man gerade nicht verfügt. (Damit man sie sich aneignen kann, müssen Rollen - als vorgefundenes Muster und Regelwerk - immer schon existieren, sie lassen sich umdeuten, aber nicht neu erfinden; Fertigkeiten, die man sich aneignet, haben Bedingungen des Gelingens; der Vollzug des „eigenen Lebens“ ist abhängig von Umständen, über die man nicht komplett verfügt.) In der Idee der Aneignung liegt also ein interessantes Spannungsverhältnis zwischen Vorgegebenem und Gestaltbarem, zwischen Übernahme und Schöpfung, zwischen Souveränität und Abhängigkeit des Subjekts. Entscheidend ist dabei nun das Verhältnis zwischen Fremdheit und Zugänglichkeit: Objekte der Aneignung sind „weder nur fremd noch nur eigen“. Wie Michael Theunissen es formuliert: „das nur Eigene brauche ich mir nicht anzueignen und das nur Fremde vermag ich mir nicht anzueignen.“ [2]
Gerade dieses Verhältnis von „eigen“ und „fremd“ als Bedingung der Möglichkeit von Aneignung muss nun aber näher befragt werden. Wie nämlich genau funktioniert die aneignende „Einverleibung“, wie ist die mit ihr gesetzte Metaphorik von innen und außen, eigen und fremd zu verstehen, und wie hat man sich den Prozess der beidseitigen Veränderung, von dem die Rede war, vorzustellen? Geht es hier um vollständige Assimilation, oder bleibt ein Verhältnis - als Verhältnis zwischen Unterschiedenem - bestehen?
Am Aneignungsmodell, wie es bei Marx wirksam geworden ist, lässt sich die hiermit beschriebene Problematik gut nachvollziehen. Sofern er nun, so meine These, an der Aufgabe scheitert, die Spannung zwischen Fremdheit und Eigenheit produktiv zu machen, vergibt er die im Aneignungsbegriff liegenden Potenziale.
ANEIGNUNG UND ENTFREMDUNG
Den Marx'schen Aneignungsbegriff versteht man nur im Zusammenhang mit seinem Gegenbegriff, dem der Entfremdung. Zusammengenommen umreißt das Begriffspaar die Kerngedanken dessen, was man als die anthropologisch-ethische Grundlage der Marx'schen Sozialphilosophie bezeichnen kann. „Wirkliche Aneignung“ nämlich, die „Aneignung der menschlichen Wesenskräfte“ [3], bedeutet Aufhebung der Entfremdung und umgekehrt, Entfremdung ist verhinderte Aneignung. Wenn so z.B. prominent in den „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ von 1844 vier Dimensionen von Entfremdung unterschieden werden - die Entfremdung vom Produkt (der Arbeit), die Entfremdung von sich und seinen Tätigkeiten, die Entfremdung von den anderen Menschen und das, was Marx die „Entfremdung vom Gattungswesen“ nennt -, dann korrespondiert dem jeweils die Idee einer aneignenden Aufhebung dieser Entfremdung. Entfremdung liest sich so als die Störung eines Verhältnisses, das man zu sich und zur Welt (sei es die soziale oder die gegenständliche Welt) hat oder haben sollte. Auch hier kommen, vielschichtig wie der Begriff ist, verschiedene Aspekte zusammen: Man besitzt das nicht, was man selber produziert hat, ist also ausgebeutet und enteignet; man verfügt und bestimmt nicht über das, was man tut, ist also machtlos und unfrei; und man verwirklicht sich nicht in seinen eigenen Tätigkeiten, ist also sinnlosen, verarmten und instrumentellen Verhältnissen ausgesetzt, Verhältnissen, mit denen man sich nicht identifizieren kann und in denen man mit sich entzweit ist. [4] Vom Entfremdungsproblem her gelesen bedeutet Aneignung dann umgekehrt Inbesitznahme, Ermächtigung, Sinn. „Wirkliche Aneignung“ steht für eine Form des „Reichtums“ [5], der über die bloße Frage der Verteilung von Besitztümern hinausgeht. [6] Die Pointe des Marx'schen Entfremdungsbegriffs liegt nun aber in seiner Struktur. Das für den Begriff generell charakteristische Muster von Entfremdung als Trennung oder Abfallen von etwas, mit dem man gleichzeitig verbunden ist (oder sein sollte), wird bei Marx gewissermaßen produktivistisch gewendet: [7] Es geht nicht mehr um das Herausfallen aus einem Ursprung o.Ä., sondern um das Geschehen der Verselbstständigung eigener Handlungsfolgen. Entfremdung ist dann immer Entfremdung von selbst Gemachtem, die Resultate der eigenen Tätigkeit richten sich als „fremde Macht“ gegen ihre Erzeuger. Fremd ist also, was einmal eigen war, weil es selbst gemacht ist. Das ist eine weit reichende Wendung des Entfremdungsbegriffs - mit Konsequenzen für die Möglichkeit von Aneignung.
Entscheidend für die Marx'sche Theorie von Aneignung und Entfremdung ist dabei ihre Fundierung in einem philosophischen Begriff von Arbeit - als dem für Marx paradigmatischen menschlichen Weltverhältnis -, in dem Arbeit als Entäußerung und Vergegenständlichung menschlicher Wesenskräfte konzipiert wird. Knapp skizziert: Vermittelt über Arbeit werden die „menschlichen Wesenskräfte“, der Wille, die Ziele und die Fähigkeiten von Menschen „gegenständlich“, sie materialisieren sich, indem sie sich in die Welt „entäußern“. Das Vermögen der Arbeit, gedacht als Stoffwechselprozess mit der Natur, transformiert so gleichzeitig die Welt wie den Menschen. Der Mensch erzeugt in einem sich und seine Welt, er erzeugt sich, indem er seine Welt erzeugt. Und er macht sich, sofern dieser Prozess gelingt, gleichzeitig die gegenständliche Welt und sich selbst zu Eigen. Aneignung von Welt bedeutet Aneignung seiner selbst. Er „erkennt“ sich nämlich (man könnte übersetzen: seinen Willen und seine Fähigkeiten) in seinen Tätigkeiten und Produkten wieder, und (auch das ein Hegel'sches Motiv) er gewinnt sich selbst vermittelt über diese Beziehung zu seinen eigenen Produkten. Er verwirklicht sich also in der aneignenden Beziehung auf die Welt als Produkt seiner Tätigkeiten. Darin liegt ein gegenüber romantischen Konzeptionen authentischer Innerlichkeit (und gegenüber essenzialistischen Konzeptionen des Selbst) ausgesprochen produktives Konzept von Selbstverwirklichung. „Selbstverwirklichung“ bedeutet dann nämlich nicht „inneres Wachstum“ oder die Entfaltung eines inneren Wesenskerns, sondern qualifiziert ein bestimmtes - aneignendes - Verhältnis zur Welt. Dennoch beginnen - im Marx'schen Rahmen - gerade hier die Schwierigkeiten.
Wenn „Entfremdung“ das Scheitern oder die Verhinderung dieses Prozesses von Entäußerung, Vergegenständlichung und Aneignung bedeuten soll, so liegt darin ein Problem. Was nämlich - auf der Grundlage des skizzierten Arbeitsmodells - scheitert, ist genau genommen eine Art von Rückholbewegung, die das Entäußerte dem Entäußernden „zurückgeben“ soll. Derjenige, der etwas produziert, entäußert sich in die Welt, vergegenständlicht sich bzw. „seine Wesenskräfte“ in dieser und eignet sie sich, vermittelt über das Produkt, wieder an. (Im berühmten Bild von der Industrie als „Spiegel“ der menschlichen Gattungstätigkeit kommt das zum Ausdruck.) Damit aber wird - und das ist entscheidend - „Aneignung“ immer schon (und immer nur) als Wiederaneignung gedacht. Was hier angeeignet wird, ist etwas, das einem vorher - nämlich bevor man es „entäußert“ hat - schon zu Eigen war. [8]
Nun ist aber nicht nur unklar, wie man sich den hier gedachten „Entäußerungs“- und „Vergegenständlichungs“-Vorgang zu denken hat (das dahinter liegende Konzept von Arbeit und Produktion ist mindestens fragwürdig). [9] Eingeebnet wird damit vor allem die Dimension der Fremdheit, die doch - nach obiger Bestimmung - konstitutiv für das Verhältnis der Aneignung zu sein schien. Es ist nicht mehr ersichtlich, dass in der Auseinandersetzung mit der Welt überhaupt etwas passieren, dem Prozess etwas Neues hinzugefügt werden kann. Und es ist nicht ersichtlich, inwiefern die aneignende Tätigkeit es überhaupt mit etwas Eigenständigem zu tun hat. Kriterium für das Gelingen eines Aneignungsprozesses wird nämlich die Wiederherstellung einer Deckungsgleichheit zwischen den als „innen“ und „eigen“ gedachten „Wesenskräften“ und dem entäußerten Produkt. Aber schon am Muster der handwerklich-künstlerischen Produktion gedacht [10] ist das kein überzeugendes Modell. Gibt es nicht selbst hier Widerständigkeiten des Materials, unvorhergesehene Effekte und unvorhersehbare Konstellationen, die der Vorstellung entgegenstehen, hier werde etwas (und nur das) gegenständlich, was sich im Plan und in den Fähigkeiten des Handwerkers/Künstlers - gleichsam in einem anderen Aggregatzustand - bereits vorfindet? Geleugnet wird in einem solchen Modell die konstitutive Eigendynamik von Handlungsresultaten, der Eigensinn von Handlungen wie auch der Eigensinn des Materials. Sofern damit aber die Eigenständigkeit und Faktizität der Welt getilgt ist, ist Selbstaneignung dann gerade nicht mehr vermittelt über Weltaneignung, eher schon wird Weltaneignung - fasst man die Welt in diesem Sinne als Produkt auf - reduziert auf Selbstaneignung.
Damit ist aber auch die Vermischung und Durchdringung, als die der Aneignungsprozess oben beschrieben worden ist, nicht mehr eigentlich eine Vermischung - und schon gar nicht eine Konfrontation. Angeeignet wird ja nicht mehr etwas Fremdes, Selbstständiges, etwas, das dem Aneignenden in irgendeinem relevanten Sinn entgegenstehen könnte, assimiliert wird von vornherein nur das eigentlich schon Eigene. Das hat Konsequenzen für den oben angedeuteten Erfahrungsprozess der Aneignung, in dem sich Angeeignetes und Aneignender wechselseitig transformieren sollen: Mit der Tilgung der Fremdheit ändert sich der Charakter dieses Prozesses. Nicht um einen offenen Prozess der Erfahrung (eine Erfahrung, die man, wie Hegel sagt, gleichzeitig mit sich und seinem Gegenstand macht) handelt es sich dann noch, sondern (teleologisch gedacht) um die Verwirklichung einer Bestimmung oder um die Realisierung eines Wesens. Angeeignet wird dann immer das schon Vorhandene, das sich im Prozess der Aneignung genauso wenig verändert wie derjenige, der es sich aneignet. Oder anders: Aneignung wird zur Entfaltung von etwas, das es - wie immer verpuppt - schon gibt. Damit aber bleibt der Aneignungsbegriff nicht nur - wie auch, komplementär dazu, der Entfremdungsbegriff - an essenzialistische Konzepte des „Eigenen“ und des „Selbst“ gebunden; auch die Spannung zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit, von der oben die Rede war, ist getilgt.
Es liegt nahe, was eine Rekonstruktion des Aneignungsbegriffs zu leisten hat: die Rehabilitierung des Fremden innerhalb des Modells der Aneignung und seine Radikalisierung hin zu einem nichtessenzialistischen Aneignungsbegriff. Aneignung wäre dann ein permanenter Transformationsprozess, in dem das Angeeignete durch seine Aneignung erst entsteht - ohne dass man dazu auf den Mythos einer creatio ex nihilo verfallen müsste. Wenn Aneignung demnach ein Verhältnis bezeichnet, in dem man gleichzeitig verbunden und getrennt ist, das Angeeignete immer eigen und fremd zugleich bleibt, hat das Konsequenzen für die (mit dem Aneignungsbegriff verbundene) Emanzipationsidee. Der Anspruch gelingender Welt- und Selbstaneignung bestünde dann nämlich darin, sich die Welt zu Eigen zu machen, ohne dass sie einem immer schon zu Eigen wäre, und sie und das eigene Leben gestalten zu wollen, ohne dabei von totaler Verfügungsmacht auszugehen.
Rahel Jaeggi
Anmerkungen [1] Bekanntlich ist bei Locke der Vorgang der „Aneignung“, verstanden als Vermengung von etwas mit der „Arbeit der eigenen Hände“, die Grundlage und Legitimation des Eigentums. Dabei kennt aber interessanterweise das Englische den Unterschied zwischen Besitzergreifung und Aneignung - beides „appropriation“ - nicht.
[2] Michael Theunissen, „Produktive Innerlichkeit“, in: Frankfurter Hefte extra, Heft 6, Dezember 1984.
[3] Es ist nicht ganz leicht zu sehen (und in der Interpretation nicht unumstritten), wie sich der Zusammenhang dieser Bestimmungen von Entfremdung für Marx darstellt. Wo im Text eine Abfolge und Entwicklung angedeutet wird, ist gleichzeitig nicht klar, ob diese logisch oder genetisch zu denken ist. Zudem liegt es nahe, sich die Entfremdung vom Gattungswesen nicht als eine weitere Dimension, sondern als Zusammenhang der drei vorher entwickelten Bestimmungen zu denken. Für eine ausführliche Interpretation dieser Fragen siehe u.a. Andreas Wildt, Die Anthropologie des frühen Marx, Doppelkurseinheit Fernuniversität Hagen, 1987.
[4] Auf die soziale Entfremdung übertragen bedeutet das analog: Diese haben instrumentellen Charakter, sind von Herrschaft und (andererseits) Indifferenz geprägt.
[5] Zu einer ausführlichen und kritischen Auseinandersetzung mit der Marx'schen Entfremdungstheorie und der hier wirksamen Vorstellung von „Reichtum“ siehe auch Georg Lohmann, Indifferenz und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1991.
[6] Das Begriffspaar von Entfremdung und Aneignung steht damit für die qualitative Dimension einer Kritik von Selbst- und Weltverhältnissen, wie sie innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Produktions- und Aneignungsformen herrscht. Der schillernde Begriff des „Kommunismus“ gewinnt hier eine Tiefendimension und manchmal einen nahezu utopischen Überschuss: Nicht nur eine andere Verteilung des Besitzes, sondern andere Weisen des Besitzens und des Umgangs mit der Welt werden hier entworfen. (Die Anknüpfung an solche Motive lässt sich von Lukács über Adorno bis hin zu Negt/Kluge verfolgen.)
[7] Zu dieser Thematik siehe Peter Furth, Phänomenologie der Enttäuschung, Frankfurt/M. 1991.
[8] Und umgekehrt: Entfremdung ist dann immer Entfremdung von etwas, das mir eigentlich zukommt, das mir eigentlich gehört oder zu dem ich eigentlich gehöre, ohne dass sich plausibel machen ließe, worauf diese Verbindung beruht. Die damit verbundenen Probleme kann ich hier nicht diskutieren.
[9] Es würde zu weit führen, das hier zu entwickeln. Zu einer fundierten Kritik des Entäußerungsmodells der Arbeit siehe aber E. M. Lange, Das Prinzip Arbeit, Frankfurt/M./Berlin/ Wien 1980. Zur Kritik am Marx'schen „Produktionsparadigma“ als gesellschaftstheoretischer Grundlegung siehe Jürgen Habermas, „Arbeit und Interaktion“, in: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt/M. 1969.
[10] Und dass Marx das zu tun scheint, ist nur eines von vielen Problemen, die man mit dem Arbeitsbegriff haben kann. Siehe zu dieser Diskussion um das Arbeitskonzept und einer Kritik am Modell der Arbeit als „Telosrealisation“, Peter Ruben, „Arbeit als Telosrealisation oder Selbsterzeugung der menschlichen Gattung?“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Nr. 1, 1979.
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